NZZ am Sonntag: Das neue Clubbing

INDOOR-CYCLING IM NACHTKLUB UND BOXEN IN DER LAGERHALLE: WO DIE HIPPEN STÄDTER HEUTE TRAINIEREN. MUCKIBUDE WAR GESTERN – HEUTE STÄHLT MAN SEINEN KÖRPER IN LAGERHALLEN, KLUBS UND IN BOUTIQUE-HOTEL-ATMOSPHÄRE. WIR STELLEN NEUE ANGEBOTE VOR.
von Jocelyne Iten, 21.7.2019

Am Wochenende wurde im Zürcher «Club Bellevue» gefeiert, im Separee gequalmt, der Boden mit Schweissperlen benetzt, und Wodka-Shots wurden über den Tresen gereicht. Am Montagabend treffen sich an selbigem Ort zwölf Frauen im Alter von Anfang zwanzig bis Mitte dreissig zum gemeinsamen Trainieren. Der Klubraum ist abgedunkelt und nur mit wenigen Lichtquellen erhellt. Die Frauen versammeln sich auf dem mit dicken Matten ausgelegten Boden, der sonst Tanzfläche ist, einige recken sich und plaudern, ehe die ersten Klänge aus den Boxen ertönen.

Mit «Are you ready? Let’s go!» eröffnet Trainerin Solveig Bethke die Stunde und gibt sogleich den Takt vor: «Tap Tap Tap», ruft sie, während sich die Frauen rhythmisch und an den Händen haltend zu progressiver House-Musik im Kreis bewegen und dabei die Beine abwechselnd kreuzen. Auch bei den folgenden Übungen, etwa beim «Squat» oder «Lunge» – wie Kniebeugen und Ausfallschritt auf Neudeutsch heissen –, lässt man die Hände des Nebenans nicht los. Nach rund einer halben Stunde liegen die Frauen durchgeschwitzt am Boden, das Licht geht aus, die Trainerin zündet Kerzen an und beendet die Stunde mit einer geführten 15-minütigen Meditation, die jeweils unter einem spezifischen Thema wie «Own your body» oder «Just breathe» steht.

Das Fitnesskonzept «Body Mind Shape» von Solveig Bethke, das Sport und Meditation ­vereint, ist ungewöhnlich. Es ist intimer als herkömmliche Gruppenfitnesskurse, findet an einer exotischen Lokalität statt und richtet sich an «women only».

Seit Herbst 2018 lässt die 29-jährige Zürcherin mit ihrem Programm jeweils montags und mittwochs eine Stunde lang Selbstliebe und Akzeptanz hochleben. «Wir Frauen werden gesellschaftlich leider immer noch zu oft anhand unseres Körpers gemessen. Dabei ist ein fitter Kopf viel wichtiger als ein runder Po und flacher Bauch», sagt sie.

Ein ganzheitliches Trainingsprogramm

Eine vielgehörte Aussage, die zu wiederholen sich aber lohnt, wie Solveig Bethke aus eigener Erfahrung weiss. Als ehemalige Leistungssportlerin und Model war der Körper ihr wichtigstes Werkzeug. «Ich war aber nicht zufrieden mit mir, weder als ich muskulös noch als ich sehr dünn war», sagt Bethke, die BWL und Kulturwissenschaften studiert hat, ehe sie sich ihrer neuen Mission widmete. Ihr Fitnesskonzept ist – auch dies ein Trend – ganzheitlich aufgebaut, die «Mind-Body-Connection» dabei essenziell. Dass die Zürcherin ihr Programm in einem Nachtklub anbietet, wo sonst eher ungesunde Verhaltensweisen zelebriert werden, sieht die Autodidaktin nicht als Widerspruch.

Im Gegenteil – einerseits stehe der Klub unter der Woche leer und habe eine perfekte Soundanlage, andererseits würden immer mehr Menschen einen gesunden Lebensstil anstreben. «Ich glaube, dass Klubs ihr Image ändern werden, um alternativen Projekten mehr Raum zu geben», sagt Bethke.

Steiles Wachstum in der Fitnessbranche

Auch wenn Solveig Bethke momentan noch eine Nische bedient, entspricht ihr Angebot dem Zeit­geist. Denn der Sport- und Fitness-Sektor befindet sich im Wandel und gleichzeitig in einem steilen Wachstum. Laut dem Schweizer Fitness- und Gesundheitscenter-Verband (SFGV) erzielt die Fitnessbranche hierzulande jährlich 916 Millionen Franken Umsatz.

Zudem liess das Bundesamt für Sport in einer Studie von 2014 verlauten, dass rund zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung mindestens einmal pro Woche Sport treiben. Ausserdem sei der Anteil der sehr aktiven Sportlerinnen und Sportler, die mehrmals pro Woche Sport treiben, über die letzten zwanzig Jahre kontinuierlich angestiegen. In diesem Jahr wird die Studie erneut durchgeführt. Es ist zu erwarten, dass die Zahlen höher ausfallen werden oder zumindest beständig bleiben.

Nicht nur das Sporttreiben allgemein liegt im Trend, auch das Wie und Wo wird origineller. Vorreiter in Sachen unkonventionelles Workout-Angebot für Städter waren der ehemalige Banker Erich Züger, Sportcoach Timo Klein und Kreativdirektor Paco Savio vom «Balboa».

Vor vier Jahren errichteten sie in einer frei stehenden Garage im Zürcher Kreis 5 einen Trainingsplatz. 2016 folgte die fixe Lokalität am Schanzengraben und ein Jahr später jene im Viadukt. Im gut frequentierten Lokal nahe des Paradeplatzes herrscht Keller-Atmosphäre. Es ist rau, hie und da schmutzig und gedrängt. Wellness sucht man vergebens. Entspannen kann man auf einem Hocker an dem im Obergeschoss angesiedelten veganen Restaurant mit Bar.

Ein damals visionäres Konzept, das eine Marktlücke füllte und Leute über die Zürcher Szene hinaus anlockte. Ein ähnliches Programm verfolgt Ravi Sinnathamby von «Unik Training» in Bern.

In einer 700 Quadratmeter grossen Lagerhalle im Berner Industriegebiet, alte Metallverstrebungen inklusive, errichtete er vor zwei Jahren eine offene sogenannte Bewegungsfläche, wo Boxkurse, Booty-Camps oder Athletik-Trainings stattfinden. «Wenn du bei uns trainierst, ist es echt. Berührst du die Eisenstange, ist da Rost», so der 31-Jährige. Mit Sperrholz, Paletten und der Hilfe von arbeitslosen Jugendlichen, die er im Gegenzug mit einem Fitness-Abo entlohnte, eröffnete er in nur drei Monaten den urbanen Trainingsplatz.

Im «Unik Training» hängen Bilder von Schweizer und internationalen Künstlern an den Wänden, zweimal wöchentlich legen lokale DJ auf, und Sinna­thamby ist zudem gerade dabei, einen botanischen Garten zu errichten. «Unser Gym vereint einerseits meine Faszination für Sport, Kunst und Musik, andererseits arbeiten wir primär gesundheits- und leistungsorientiert», sagt Sinnathamby, und meint: keinen blossen Wettbewerb im Eisenstemmen, sondern betreutes Krafttraining. Seit kurzem arbeite man zudem mit einem Physiotherapiestudio zusammen, das sich einen Platz vor Ort einrichtete.

Trendwelle kommt aus Übersee

Viele dieser zugegebenermassen nicht typisch schweizerischen Sportideen kommen aus Grossbritannien, dem grössten Fitnessmarkt Europas, oder von Übersee. So etwa auch das in Los Angeles bereits sehr erfolgreiche Konzept des Indoor-Cyclings. 2005 gründeten Elizabeth Cutler und Julie Rice das Unternehmen Soul Cycle. Den von zahlreichen Prominenten besuchten Spinning-Kurs beschreiben die Gründerinnen selbst als «Cardio-Party». Also quasi eine Feier auf dem Velo. Nachahmer gibt es in der Schweizer Szene bereits einige.

Ein weiterer kommt im September dieses Jahres hinzu. Die treibende Kraft hinter dem Boutique-Fitness-Brand Open Ride ist die Baslerin Eva Nidecker, die seit über zwanzig Jahren als Radio- und TV-Moderatorin in Schweizer Stuben präsent ist. Zusammen mit der Britin und Cycling-Head-Coach Rebekah Abdeen will sie mit einem eklektischen Mix aus (Live-) Musik, Lichtshow und Ganzkörpertraining auf dem Velo die Wahrnehmung von Fitness beeinflussen.

 

Eva Nidecker will mit ihrem Cycling-Studio Open Ride die Wahrnehmung von Fitness beeinflussen. (Bild: Martina Strul)

Eva Nidecker will mit ihrem Cycling-Studio Open Ride die Wahrnehmung von Fitness beeinflussen. (Bild: Martina Strul)

 

«Schweiss löst Barrieren und bricht Grenzen auf», sagt Nidecker, «er wischt Make-up und Ego weg. Bei unseren Rides verliert man sich regelrecht im Moment.» Auffallend ist vor allem die Zusammensetzung des Coaching-Teams. So werden demnächst unter anderem zwei Tänzer des Zürcher Balletts, ein Nachtschwärmer und ein Anwalt durch die 45-minütige Lektion führen.

Ob Bootcamp, Cycling oder Trainieren im Klub – was den neuartigen Trainingsangeboten gemein ist und sie so beliebt macht, ist der Gemeinschaftsgedanke. Immer mehr Menschen haben immer weniger Zeit, sind oft alleine und ziehen persönliche Kontakte und einen Austausch in der Community der Anonymität in grossen Muckibuden vor.

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Details:

2. August 2019
Categories:
journalism
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