NZZ am Sonntag: SCHANGHAI-BLUES
SEELENLOSE BAUTEN, OFFENE GIER UND MENSCHEN, DIE SICH INS INTERNET VERABSCHIEDET HABEN: IN SCHANGHAI IST VON DER KAPITALISTISCHEN GRÜNDERROMANTIK NICHT MEHR VIEL ZU SPÜREN. SPURENSUCHE IN EINER VERLORENEN TRAUMSTADT. Von Martina Strul
27. November 2016, NZZ am Sonntag
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Das Schanghai, das einmal meine Wunschheimat war, gibt es nicht mehr. Inzwischen haben die Wolkenkratzer den Löwenanteil der alten Gassenhäuser verschluckt. Aus der Stadtlandschaft verschwunden sind die schmucken architektonischen Zeitzeugen, die mich bei meinem letztlich gescheiterten Versuch, in Schanghai heimisch zu werden, einst mit Freude erfüllten. Ich traue meinen Augen kaum, als ich das dichte Geflecht an farbigen Linien als Schanghais Metro-Plan entlarve. 2004 gab es gerade einmal vier U-Bahn- Linien, jetzt sind es zwölf mehr.
Wie jedes Mal, wenn ich in Schanghai lande, entdecke ich die Stadt von neuem. Doch dieses Mal hat sich der Wandel besonders rasch vollzogen. Kaum in die U-Bahn eingestiegen, sehne ich mich nach dem Schanghai, bevor es Smartphones gab. Gern erinnere ich mich an die Zeit, als die Leute noch SMS schrieben und ihre Handys nicht permanent mit gesprochenen Nachrichten volllaberten. Eine Ära, in der die Metrotunnels keine Werbeflächen waren und man U-Bahn fahren durfte, ohne seine Tasche durchleuchten zu lassen.
Trotz den vielen neuen Metrolinien gehört das Gedränge in der Metro noch immer zum Schanghaier Alltag dazu. Die Haare des Geschäftsmannes im schwarzen Anzug neben mir sind über seinen rasierten Schläfen mit viel Spray zu einem Kamm zusammengeklebt. Vor zehn Jahren hätte man sich in der Öffentlichkeit über diese Haarpracht das Maul zerrissen. Dasselbe gilt für das Teenagermädchen mit den blauen Strähnen, das drei Sitz- plätze weiter permanent Sprachnachrichten versendet. Im heutigen Schanghai kein Problem mehr: Die extrovertierten Looks reihen sich kommentarlos in die Menschenmassen einer modebewussten Stadt ein.
GELEAKTE SEXVIDEOS
In der Französischen Konzession angekommen, treffe ich mich mit meinem langjährigen Freund, den ich 2005 im Dunstkreis eines verrauchten Punkkonzerts kennengelernt habe. Damals startete John Paul seine Karriere in der Filmindustrie, heute ist der englisch-italienisch-stämmige Expat ein gefragter Kameramann und Regisseur. «Chinesen existieren hauptsächlich online», sagt er, wischt sich mit der Serviette die Überreste seines Bagels von den Lippen und spült mit einem Smoothie nach. «Wenn du in China keine Social Media benutzt, gibt es dich nicht. Ich bekomme alle Skripte über Wechat.» Mir ist bereits aufgefallen, dass die Chinesen weniger Berührungsängste mit der Technik haben als ich. Das Smartphone im Reich der Mitte ist nicht nur Fenster zur Welt, sondern auch Geldbeutel. Viele Schanghaier bezahlen an der Kasse, indem sie einen QR-Code scannen, während ich in meinem Portemonnaie Bargeld zusammenkratze und mir dabei vorkomme, als würde ich aus einem anderen Zeitalter stammen. Mit dem Pay-Service Wechat Wallet hat Chinas beliebtestes soziales Netzwerk eine Revolution des mobilen Internets eingeläutet: Mithilfe der Wechat-App – im Westen am ehesten mit Whatsapp zu vergleichen – werden im Reich der Mitte Tische reserviert, Taxis gerufen oder Ferien gebucht.
«Hast du das Video vom jüngsten Sexskandal gesehen?» Ich schüttle den Kopf. Schmunzelnd zückt John Paul sein Handy und spielt mir den Film ab. Ich erkenne den nackten Rücken einer laut stöhnenden Frau, die von ihrem Liebhaber während des Akts von hinten gefilmt wird. Sie kniet auf einem Stuhl dicht an der Fensterfront eines Hotelfensters mit Blick auf Schanghais berühmteste Skyline in Pudong. Es handelt sich um ein paar Sekunden verwackelte Handyaufnahmen, die so schnell durch die sozialen Netzwerke gefegt sind, dass sie den hochentwickelten Zensurapparat überfordert haben.
In Windeseile haben die chinesischen Netizens die Identität der Frau ermittelt, das Hotelzimmer dem «Four Seasons» in Pudong zugeordnet und selbst die Marke des Stuhls veröffentlicht, auf dem der Akt stattfand. «Das ist nun schon das zweite geleakte Sex- Video in einem Jahr.» John Paul spielt auf die zwei Teenager an, die sich letz- ten Sommer in einer Umkleidekabine in Peking beim Sex gefilmt haben. Der Uniqlo-Shop im Sanlitun-Distrikt ist inzwischen zum Selfie-Mekka chinesischer Jugendlicher geworden. Kurz nachdem das Video «viral» wurde, gab es T-Shirts mit dem Bild der beiden. Der Aufschrei im Netz erinnert in beiden Fällen an eine Seifenoper – nur dass die Beteiligten das Drama nicht wegzappen können.
John Paul und ich können uns ein Lachen nicht verkneifen. Ironie des Schicksals, dass der Skandal um das Hotelfenster-Video ausgerechnet die hoffnungsvolle Sonderwirtschaftszone in Lujiazui trifft: den Herzschrittmacher der chinesischen Ökonomie. Gerade jetzt, wo Chinas Wirtschaft ohnehin für schlechte Schlagzeilen sorgt, muss es Schanghais Vorzeigekulisse sein, deren Ansehen mit diesem Film beschmutzt wird. Da, wo die Luft zwischen den Hochhäusern immer dünner wird – an jenem Flecken China, an dem die Regierung am liebsten nichts dem Zufall überlassen will.
Gerade als ich mich mit John Paul über die Kuriositäten der chinesischen Online-Gemeinde amüsiere, klingelt sein Telefon, und er muss überraschend weg. Er verabschiedet sich mit den Worten: «Sorry, aber sie haben hier gar keine Hemmungen. Sie rufen dich nachts um elf an, du musst immer erreichbar sein.»
FERTIG GROSSBAUSTELLE
Der Himmel über der Stadt ist für einmal wolkenlos, die Sterne sind zum Greifen nah, überall werde ich daran erinnert, dass sich Schanghai seit meinem letzten Besuch auf Hochglanz poliert hat. Ich bereue es, dass ich meine analoge Kamera aus Platzgründen nicht eingepackt habe. Auch wenn ich die besten Bilder der Stadt schon im Kasten habe, ärgert es mich, dass die neuerdings geleckten Strassen in der Innenstadt auf den digitalen Bildern noch steriler wirken, als sie es ohnehin schon sind. Im Jahr 2016 hat Schanghai sein Grossbaustellendasein endgültig gegen ein schmuckes Erscheinungsbild getauscht. Es zeigt sein funkelndes Antlitz in futuristisch anmutenden Einkaufszentren ebenso wie auf Leuchtreklamen, die auf Wolkenkratzer projiziert sind. Einmal mehr in der Geschichte stellt die Hafenstadt am Jangtse-Delta, wo einst die koloniale Vergangenheit Chinas herumhurte, ihren Reichtum zur Schau.
Tags darauf begegne ich in der beliebten Einkaufspassage Tianzifang einer Vielzahl von Teenagermädchen in knappen Miniröcken, die ihre Haut mit Schirmen vor der Sonne schützen, um möglichst blass zu erscheinen. Wie im Westen sind auch hier in China die Stadtkinder konsumgesteuert, an jeder Ecke wollen sie sich mit einem Selfie verewigen, damit sie es danach auf den sozialen Netzwerken mit der Welt teilen können. Manche schmücken ihre Iris mit farbigen Linsen, fast alle, die hip sein wollen, tragen Span- gen mit Plasticpflanzen im Haar. Ob eine kleine Blume, ein Kleeblatt oder ein Chili, die Dichte von Menschen, aus deren Kopf etwas herauswächst, ist hier in der Einkaufspassage des Tianzifang besonders hoch. Es ist die Folge eines Trends namens Tou Shang Zhang Cao, der sich innert weniger Tage via Social Media im ganzen Land verbreitet hat.
Ich frage mich, ob die Pflanzen im Haar der chinesischen Hipster im Online-Zeitalter eine Rückbesinnung auf die Natur symbolisieren. Rasch merke ich, dass ich mit meiner Annahme komplett danebenliege. So wie die Plasticpflanzen variieren, so unterschiedlich gestalten sich die Antworten auf meine Frage, wieso man sich Pflanzen aus dem Kopf wachsen lässt: «Sieht cool aus» oder «Ich habe es von meiner Freundin» bis hin zu: «Ein paar chinesische Celebrities haben Selfies damit gepostet, nun machen das alle.»
Eines der Mädchen, die ich fotografiere, steckt mir einen Chili ins Haar, als Dank dafür, dass ich sie fotografiert habe, und auch, weil sie meine markante Nase schön findet. Offensichtlich hat sie sich künstliche Lider aufgeklebt, um ihren Augen mehr Tiefe zu verleihen. Beim Ausfahren ihres Selfiesticks fragt sie mich, ob sie mit mir eine Foto machen darf. Ich willige ein, auch wenn ich mich nur ungern mit einem Chili auf dem Kopf dokumentieren lasse. Sobald sich das Mädchen aus meinem Sichtfeld bewegt hat, verschwindet das Plasticteil für immer in meiner Tasche.
Ich schlängle mich durch die verwinkelten Gassen des Tianzifang auf der Suche nach dem Ausgang. Dabei passiere ich überteuerte Designergeschäfte und lauschige Lokale, die vorwiegend westliche Küche servieren, und freue mich über die Tatsache, dass ich als Ausländerin nicht mehr die Aufmerksamkeit auf mich ziehe wie noch vor zehn Jahren. Während früher mein westliches Aussehen in der Öffentlichkeit von jedermann verbal seziert wurde, falle ich heutzutage in den Massen der Ausländer kaum mehr auf. Insbesondere hier in der Französischen Konzession wimmelt es nur so von laowai (Ausländern).
Nachdem ich die erste Woche allein unterwegs war und Vergangenheitsbewältigung betrieben habe, landet am Flughafen meine Verstärkung: Mit der Magnetschwebebahn hole ich meinen Mann ab. Er ist ein Chinaneuling, der beim Geldwechseln das erste Mal an seine sprachlichen Grenzen stösst. Die Frau am Tresen der Wechselstube winkt genervt ab, als er sie auf Englisch anspricht. Erst als ich auf Mandarin dazwischenfunke, lassen sich die Schweizerfranken rasch in chinesische Renminbi umtauschen.
«SIE KANN KUNG FU»
Die Bar in der Nähe unseres Hotels ist gut besucht. Mit einem Bloody Mary in der Hand besetze ich mit meinem Mann die letzten freien Sitzplätze am Ende eines langen Tisches, wo eine Gruppe Chinesen bei Trinkspielen Gelächter produziert. Es dauert nicht lange, bis mir der Chinese zu meiner Linken mit zusammengepresstem Mund ein zerknülltes Stück Papier vor die Nase hält und mir dabei ziemlich nahe kommt. Ich habe keine Lust, die kleine Papiertüte mit meinen Lippen zu umklammern, um sie dem nächsten in der Runde weiterzureichen. Mit einer verneinenden Handbewegung lehne ich das Trinkspiel ab. Meine Reaktion löst Gelächter aus. Ein Gruppen-Ganbei (Prost) folgt, und ich komme mit meinem alkoholenthemmten Tischnachbarn ins Gespräch, der mit seinen Kollegen aus Chengdu für eine amerikanische Firma arbeitet und in Schanghai auf Geschäftsreise ist. Mein Mann unterhält sich an der gegenüberliegenden Tischkante mit einer englischsprechenden Chinesin.
Es hätte ein netter Abend werden können, wenn nicht plötzlich eine der Frauen vom Tisch aufgesprungen wäre und mehrmals durch die Bar geschrien hätte: «Er ist schwul!» Unmissverständlich zeigt sie dabei mit dem Finger auf meinen Gesprächspartner, der ohne mit der Wimper zu zucken weiter mit mir spricht. Durch halbvolle Biergläser hindurch entdecke ich meinen Mann, inzwischen schmunzelnd, wie ihm zwei Männer Kampfansagen ins Ohr flüstern: «Bring ihn um, er redet mit deiner Freundin! Bring ihn um! Wie kannst du ihn nur nicht umbringen?!» Sie flüstern so laut, dass ich es mitkriege. Doch mein Mann bleibt cool: «Ich habe keine Angst, sie kann Kung-Fu. Und übrigens, sie ist meine Frau.» Daraufhin wechselt die Chinesin, die sich eben noch um meinen Mann bemüht hat, den Sitzplatz. Die Enttäuschung ist ihr ins Gesicht geschrieben.
Unterdessen hat sich die hysterische Freundin meines Gesprächspartners vor mir aufgeplustert und will ein für allemal klarstellen: «Er gehört mir. Wenn du meinen Freund liebst, werde ich deinen Mann lieben.» Für einen Moment ist unklar, ob sie sich gleich auf meinen Mann stürzt, um ihn abzuknutschen. Eine unangenehme Situation, die durch ein Gruppen-Selfie gekonnt überspielt wird. Danach werde ich von meinen chinesischen Trinkgenossen genötigt, den bestaussehenden Mann in der Runde zu küren, während mein Mann die hübscheste Frau bestimmen muss. Nach diversen Versuchen, dieses Anliegen auszuschlagen, fällen wir widerwillig unsere Entscheidung. Ich gehe davon aus, dass mein Gesprächspartner bald wieder single ist. Zumindest dürfte ihm seine Freundin die Nacht zur Hölle gemacht haben.
Wieder unter freiem Himmel lassen mein Mann und ich den Abend Revue passieren. Beide sind wir leicht irritiert darüber, wie die eine Frau ihre Eifersucht nach aussen trug. Ich verspüre eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Mitleid für meinen Tischnachbarn. Mitleid, weil ich diese Art von Eifersuchtsdramen vor zehn Jahren mit meinem damaligen Schanghaier Freund selbst erlebt habe. Erleichterung, weil die Hand, die ich halte, einem Mann gehört, der mit mir über Situationen wie diese schmunzeln kann.
Wir spazieren durch eine Gegend, wo einst das laute Treiben der improvisierten Gassenküchen den Strassen Leben einhauchte. Von dieser Dampftopfromantik ist in der Innenstadt nur wenig übrig geblieben. Sie ist den glanzvollen Konzeptläden gewichen, die sich den schicken Alleen entlang säumen und einen Hauch von Paris vermitteln. Noch vor einer Dekade hingen hier Plakate, die die Bevölkerung ermahnten, nicht auf den Boden zu spucken, heute werden sie durch Anzeigen ersetzt, die für Schönheitschirurgie oder Luxusferien werben. Die überschäumende Goldgräberstimmung, die Schanghai seit den neunziger Jahren zur Erfolgsgeschichte macht, determiniert das Wesen der Stadt ebenso stark wie die Online-Generation, die die Zukunft von Chinas Vorzeigemetropole prägen wird.
LÖCHER IN DER MAUER
Mir wird klar, wie das Aufkommen der sozialen Netzwerke China von Grund auf verändert hat. Vor einer Dekade war ich es gewohnt, billige Copy-DVD auf der Strasse zu kaufen, heute bieten die sozialen Netzwerke die ganze Spannbreite an Unterhaltung. China schreibt nicht mehr als Kollektiv einer grossen Masse Geschichte, sondern die Netizens generieren täglich Millionen eigener Storys. Diese neue Form des Ausdrucks schliesst eine Lücke, die das staatlich kontrollierte Fernsehen nie füllen konnte, und verleiht der Online-Generation eine Art Freiheit, von der frühere Generationen nur träumten. Mao Zedong würde sich im Mausoleum umdrehen, wenn er wüsste, wie schwer es seinen Parteikollegen fällt, die Löcher in der grossen Firewall und die Mäuler der Netizens zu stopfen. Geschweige denn, wenn er mit ansehen müsste, wie sich die Jugendlichen in den Strassen Schanghais nach westlichem Vorbild vergnügen. Es sind dieselben Strassen, in denen 1921 die Kommunistische Partei Chinas ins Leben gerufen wurde.
Das Schanghai, das sich vor meinem Auge zu einem funkelnden Grossstadtteppich zusammenfügt, ist nicht mehr mein altes Zuhause, das mich einst dazu veranlasste, der Schweiz den Rücken zu kehren. Die Geschwindigkeit, in der Schanghai seinen Wandel vorantreibt, fasziniert und überfordert mich zugleich. Ich merke, wie sich meine Sicht auf Chinas Glitzermetropole verändert hat: Ich habe den rosaroten Filter von früher durch einen nüchternen Blick auf die Stadt eingetauscht.
Details:
Martina Strul
13. Dezember 2016
Categories:
journalism
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