Z MAGAZIN: Als gäbe es kein Morgen

IN DER GEGEND RUND UM GAN HAHASHMAL, LANGE ALS STRASSENSTRICH UND DROGENHÖLLE BERÜCHTIGT, WEHT DERZEIT EIN FRISCHER WIND DURCH DIE BAUFÄLLIGE NACHBARSCHAFT. LOKALE MIT EINER POLITISCHEN AGENDA SIND SO SELBSTVERSTÄNDLICH WIE FLÜCHTLINGE ALS PERSONAL UND VEGANE SPEISEN.

Text und Fotos MARTINA STRUL

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1909 begannen die ersten jüdischen Familien im angrenzenden Sandland des über 3000 Jahre alten Hafens in Jaffa, eine Stadt zu erbauen, die sie Alt-Neuland nannten oder auf Hebräisch: Tel Aviv. Innert Kürze verwandelte sich die Stadt am Mittelmeer zum Zentrum des weltlichen Judentums. Hier gibt es keine offiziellen Stadtbezirke. Man unterteilt lediglich in Nord-, Zentral-, Süd-Tel- Aviv und Jaffa. Waren es einst der Bauhaus-gesäumte Norden und die Stadtmitte, welche die Bohemians Israels anzogen, wurden diese in den letzten Jahren – aufgrund der rasant steigenden Mietpreise – vermehrt nach Süd-Tel-Aviv und Jaffa gedrängt. Durch die Renovierung des alten Hafens in Jaffa wurde rund um den Flohmarkt eine Welle der Gentrifizierung losgetreten, welche den vernachlässigten Süden zwar aufwertet, aber auch da die Mieten rapide ansteigen lässt.

Seit der Protestwelle gegen die hohen Lebenskosten im Juli 2011 ist in Süd-Tel-Aviv eine Vielzahl kreativer Freiräume entstanden, die der Weissen Stadt Farbe ins Gesicht zaubert. Noch weiter südlich, auf dem Flohmarkt mitten in der pittoresken Altstadt Jaffas, reihen sich hippe Designershops zwischen die Trouvaillen der Trödelläden, und lauschige Cafés laden zum Verweilen ein. Eine Vielzahl neuer Lokale sorgt für Farbtupfer im lebhaften Wirrwarr aus Alt und Neu. Hier verwandeln sich die Cafés abends in Bars und sorgen dafür, dass diese Gegend auch nachts ein beliebter Treffpunkt bleibt.

Bevor der heruntergekommene Charme des Südens ganz der Gentrifizierung zum Opfer fällt, entwickeln sich Jaffa und Süd- Tel-Aviv weiterhin zu einem einzigartigen Schmelztiegel, der die Agenda der Linken, Palästinenser, Flüchtlinge und derjenigen der LGBT-Szene in Form eines lebhaften Aktivismus nach aussen trägt. Die Stadt verführt zwar noch immer zur Illusion des «als gäbe es kein Morgen», doch die hohen Unterhaltskosten und die Unberechenbarkeit des Nahostkonflikts zwingen die Menschen zu einem Gesinnungswandel. Aus einer Notwendigkeit heraus verbindet Tel Aviv hemmungslosen Hedonismus mit politischem Engagement zu einem Lebensgefühl, das derzeit auf mehr Nachhaltigkeit abzielt und dabei unwiderstehlich inspirierend ist.

Tel Aviv – תל אביב

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25. Mai 2016
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journalism
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